Chernobylite (Xbox Series X/S) bei uns im Test

von Dennis
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Was hat Tschernobyl eigentlich mit Tokio zu tun? Und warum leuchtet hier alles so grün? Diese und andere wichtige Fragen, beantworten wir euch in unserem Test zum stimmungsvollen Stalker-Spaziergang Chernobylite auf der Xbox Series X.

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Lost Places. Von Menschen längst verlassene Orte, oft voll hinterbliebener Geschichte, die Faszination und Angst gleichermaßen hervorrufen, aber in jedem Fall mit dem Gefühl des großen Abenteuers locken. Manche von ihnen bleiben gut versteckt und nur wenigen Insidern vorbehalten, während andere so bekannt sind, dass sie ganze Generationen prägen. Für letztere gibt es wohl kaum ein populäreres Beispiel als Tschernobyl. Die Nuklearkatastrophe von 1986 stellte nicht bloß die gesamte Welt auf den Kopf, sie sollte auch den Grundstein für eine neue, eigentlich verbotene Art des Tourismus bilden. Kein Gefahrenschild und kein vergangenes Jahrzehnt konnte die Anziehungskraft dieses Ortes auch nur ansatzweise schmälern, weshalb die Stadt Prypjat und ihre Umgebung bis zu Beginn dieses Jahres noch als wahre Pilgerstätte für etliche sogenannte Stalker galt. Im Angesicht aktueller Geschehnisse zwar ein echtes Luxusproblem, aber allein historisch gesehen verdammt schade, ist Tschernobyl mittlerweile von der Landkarte abenteuerlustiger Entdecker*innen verschwunden. Wer aktuell nach Prypjat reist, reist in ein Kriegsgebiet. Und wann dieses ohnehin gefährliche Unterfangen jemals wieder möglich wird, bleibt leider abzuwarten.

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Willkommen in der Sperrzone

Doch zum Glück gibt es digitalen Tourismus, zum Glück gibt es Chernobylite! Der düstere Mix aus Survival Horror, Shooter und Rollenspiel brachte uns bereits letztes Jahr in die sagenumwobene Sperrzone. Dank optischem Upgrade, inklusive 4K und 60 Bildern pro Sekunde für die aktuelle Konsolengeneration, schlendern wir nun aber durch fast fotorealistische Umgebungen der ukrainischen Geisterstadt. Mit grandiosen Lichteffekten und stimmiger Optik untermalt, geht es vorbei am bedrohlich knarzenden Riesenrad, durch die charakteristischen Wohnbausiedlungen, düsteren Krankenhäuser und Reaktoranlagen, bis zur meterhohen Verteidigungsanlage Duga. Die völlig zugewucherten Straßen einmal überquert, bestaunen wir das ikonische Schwimmbad, schielen mit schreiendem Strahlungsmessgerät in tiefschwarze Kellergewölbe und sprinten, voller Vorfreude auf den Ausblick, nicht enden wollende Treppenhäuser hinauf. Geographisch zwar nicht immer ganz korrekt aufgebaut, weiß die Spielwelt aber vor allem eines: Uns in ihren Bann zu ziehen. Ego-Perspektive und viel Liebe zum Detail lassen die Grenze zwischen Realität und Fiktion erschreckend schnell verschwinden. Durch eine über jeden Zweifel erhabenen Immersion, schlägt Chernobylite mit seinem digitalen Tourismus in eine ähnliche Kerbe wie die Yakuza– und Judgement-Reihe, die mit ihrer ebenfalls akkuraten Nachbildung japanischer Großstädte jedes Flugticket in den fernen Osten überteuert wirken lassen. Nach nur wenigen Schritten werden wir zu einem Teil dieser Welt, werden selbst zum Stalker und erkunden diesen vermeintlich verlassenen Ort voller Neugier, aber auch mit einer ganz natürlichen Angst im Nacken – und die soll leider nicht ganz unbegründet bleiben.

Wir wünschten wirklich, es würde dabei bleiben. Bei diesem wahnsinnig atmosphärischen Ausflug an einen der faszinierendsten Orte unserer Zeit. Bei all den Entdeckungen und dem Gefühl, irgendwie wirklich da gewesen zu sein, obwohl das alles nur auf dem Bildschirm stattfindet. Und bei der bloßen Sorge, doch nicht ganz alleine zu sein, weil wir eben paranoide Wesen sind, die bei jedem Schrei in den dunklen Raum eine Antwort fürchten, aber trotzdem nie eine erhalten…

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Lovecraft reist nach Prypjat

Nun, Chernobylite hat diese Antwort. Leider. Während menschliche Widersacher noch recht nachvollziehbar wirken, weil sich in der Sperrzone ein für die Wissenschaft alles verändernder Rohstoff, das namensgebende Chernobylit, bildet und dieser nun mal vor Diebstahl und Missbrauch beschützt werden muss, stellt ein weiterer Typ Gegner unseren bislang recht positiven Eindruck auf die Probe. Wie aus einem Lovecraft-Roman entsprungen, gesellen sich schon bald außerirdisch wirkende Gestalten hinzu und öffnen damit auch nervigen Jumpscares die Tür. Ob laute Rufe aus dem Nichts oder plötzliche Angriffe, Stilmittel dieser Art schaden Chernobylite tatsächlich mehr, als dass sie dem Titel helfen – schließlich bietet das Grundgerüst bereits genügend nachvollziehbare Gänsehaut-Momente, und die würden völlig ausreichen. Wie ein in Zuckerguss ertränkter Kuchen, vergessen wir irgendwann das wunderbare Gefühl eigentlicher Kernelemente und sind nur mehr auf der Hut vor billigen Effekten. Wirklich gruselig ist das nicht, aber eben genug Sensationshascherei, um der eigentlich so erhabenen Atmosphäre einen mächtigen Dämpfer zu verpassen.

Oh, und wer bei unnötig aufgezwungenen Sci-Fi-Einflüssen bereits mit den Augen rollt, sollte die Glubscher für die Story von Chernobylite lieber ganz fest schließen. Hier schlüpfen wir nämlich in die Rolle von Igor, einem ehemaligen Physiker des hiesigen Kernkraftwerks, der seine verschollene Frau in den Ruinen der Sperrzone vermutet. Spieler*innen, die in den letzten Jahren auch nur einen der unzähligen Walking Simulatoren gespielt haben, sollte es spätestens jetzt dämmern, dass uns hier keine herkömmliche Schnitzeljagd erwartet, sondern eine verwirrende Vermischung von Realität und Wahnsinn, überzogen mit übernatürlichen Einflüssen. Ob das nun ganz großes Lovecraft-Kino oder längst überholt geglaubter Trash aus der Walking Simulator-Grabbelkiste ist, muss letztlich jede*r für sich selbst entscheiden. Jedenfalls weiß die Suche nach Anna nie so in den Bann zu ziehen wie es die Spielwelt versteht, und all die Wurmlöcher, deformierten Monster und das mysteriöse Chernobylit als bahnbrechender und nicht minder gefährlicher Rohstoff können dazu ebenfalls nur wenig beitragen.

Im starken Kontrast zur Inszenierung der Geschichte, stehen die teilnehmenden Charaktere. Igor ist ein durchaus sympathischer Protagonist und auch sein Kollege Mikhail versteht es, uns mit glaubwürdigem Verhalten und Dialogen an den Bildschirm zu fesseln. Weniger bodenständig, dafür umso interessanter geht es mit späteren Neuzugängen im Trupp zu, die zwar ganz schön bekloppt sind, aber viel zur eigenen Identität des Titels beitragen.

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Die Sims – Total verstrahlt

Spielerisch erwartet uns in Chernobylite ein leicht überladener Genre-Mix, der zwar Spaß machen kann, sich aber etwas zu sehr modernen Standards anbiedert und dabei schnell der Monotonie verfällt. Nach einer kurzen Einführung in der Sperrzone angekommen, besetzen wir eine alte Fabrik, die uns fortan als Basis dient. Von hier gelangen wir in die einzelnen Gebiete der Stadt und ihre Umgebung. In diesen eher klein gehaltenen Hub-Welten steht dann erst einmal sorgfältige Erkundung auf dem Plan, um Hauptmissionen oder Nebenziele ausfindig zu machen. Hauptquests reichen von einfacher Informationsbeschaffung, bis hin zu Sabotage oder Rettungsaktionen. Selbstverständlich werden wichtige Ziele von feindlichen Soldaten bewacht und besonders verstrahlte Areale von den monströsen Gestalten heimgesucht. Während uns letztere meist dazu zwingen, auf das spärliche Arsenal aus Schusswaffen zurückzugreifen, lassen uns die Söldner oft die Wahl, ob wir nicht vielleicht doch etwas leiser vorgehen und sie lautlos nacheinander ausschalten wollen. Das Stealth-System von Chernobylite ist sicher kein Novum im Genre, funktioniert aber zweckmäßig und ist, schlicht gesagt, ganz in Ordnung. Gleiches gilt für das Gunplay, falls wir doch mal die direkte Konfrontation suchen.

Besonders cool: Unser Verhalten beeinflusst Igors Psyche. Hinterlassen wir ein regelrechtes Blutbad in den Gefechten, leidet die psychische Gesundheit unseres Protagonisten. Das ist durchaus nachvollziehbar, bekommen wir mit Igor doch einen eher friedliebenden Physiker an die Hand und keine Kampfmaschine. Gleichzeitig scheint diese Belastung aber nichts, was nicht mit einem beherzten Schluck Wodka aus der Welt zu schaffen wäre. Auf längere Sicht dürfen wir den schrulligen Stalker aber auch diversen Kampftrainings unterziehen, wodurch wir unter anderem lernen, Feinde in einen vorübergehend seichten Schlaf zu befördern, anstatt ihnen gleich mit der Machete um den Hals zu fallen. Doch auch die Spielwelt verändert sich durch unser Verhalten stetig. Hauen wir in den Auseinandersetzungen richtig auf den Putz, erhöht das die Alarmbereitschaft der Truppen und sogar Helikopter kommen zum Einsatz – bedachtes Vorgehen gehört also immer zur besseren Wahl.

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Vor der Rückreise in den schützenden Stützpunkt, entweder weil wir das aktuelle Missionsziel erreicht haben oder uns die temporären Heilgegenstände ausgegangen sind, sollten wir eines aber auf keinen Fall vergessen: Massenweise Rohstoffe einzusacken. Einen tatsächlich großen Teil seiner Spielzeit beansprucht Chernobylite nämlich mit dem Ausbau der eigenen Basis und dem Sammeln der dafür notwendigen Ressourcen. Mit selbst hergestellten Werkbänken und der daraus entstandenen Möglichkeit, Waffen dauerhaft zu verbessern, läuft die nächste Mission garantiert wie am Schnürchen. Doch bei reiner Funktionalität bleibt es nicht, denn selbst in der Sperrzone möchte niemand auf Gemütlichkeit und Komfort verzichten. So investieren wir die, dank eines Detektors komfortabel aufgespürten, Rohstoffe auch in Betten, Sitzgelegenheiten, Fernseher, ein autarkes Stromnetz oder Luftreiniger. Das permanente Erweitern der eigenen Basis bringt durchaus Spaß und bietet eben auch einen wertvollen Anreiz, den ganzen Kram überhaupt einzusammeln, zumal alles logisch miteinander verknüpft wirkt.

Denn das eigentliche Ziel unserer gut 30 bis 40-stündigen Bemühungen in Tschernobyl ist ein Raubüberfall auf den großen Reaktor, in dem wir neben Anna auch ein paar wichtige Antworten auf das grün schimmernde Chernobylit erwarten. Da Igor und sein bei der Infiltration der Sperrzone einzig übrig gebliebener Genosse aber noch lange keine funktionierende Armee bilden, müssen wir in der Spielwelt stets die Augen nach neuen Verbündeten offen halten. Auf skurrile Art und Weise sympathisch und in ihrer Darstellung wirklich einzigartig, bieten die Neuzugänge nicht bloß wichtige Unterstützung und Unterhaltungswert, sie haben natürlich auch eigene Bedürfnisse. Während wir uns also an einem eher taktischen Aspekt des Spiels versuchen und Verbündete auf gesonderte Missionen schicken, sollten wir gleichzeitig darauf achten, dass ihnen das Leben in der Basis auch gefällt. Ein zu hartes Bett oder karge Bepflanzung führt zwangsläufig zu gescheiterten Aufträgen, respektive verletzten oder gar verstorbenen NPCs. Ja, sogar die kargen Essensrationen wollen gerecht aufgeteilt werden, um die Moral und Einsatzfähigkeit möglichst weit oben zu halten. Aber keine Sorge vor einer zu harten Herausforderung, Chernobylite lässt uns für jeden der drei Hauptaspekte des Spiel – Kämpfen, Sammeln, Craften – einen eigenen Schwierigkeitsgrad wählen. Shooter-Enthusiasten mit wenig Hang zur Inneneinrichtung dürfen also den Anspruch der Gefechte nach oben schrauben und zur gleichen Zeit eine vereinfachte Aufbausimulation erleben – vorbildlich.

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Nur schade, dass jeder Tag in der Sperrzone gleich oder zumindest sehr ähnlich verläuft. Wir wachen auf, weisen unseren Gruppenmitgliedern Missionen zu und starten selbst in eines der Gebiete rund um den Reaktor. Dort angekommen machen wir uns auf die Suche nach der aktuellen Hauptmissionen oder schlendern ein wenig umher, entdecken Händler oder Sidequests. Nebenbei wird selbstverständlich alles eingesammelt, was in den Rucksack passt, schleichen hier, kämpfen dort und kehren dann wieder in die Basis zurück, wo uns schon Aufbaumenü und Bedürfnisse der Bewohner erwarten. Überraschungen abseits dieses Alltags gibt es keine. Auch während oder kurz vor den Missionen fehlt es an gut gesetzten Scripten, die uns irgendwie aus dem Trott reißen könnten. So dümpelt Chernobylite spielerisch ein wenig zwischen Far Cry, Metro und Fallout und weiß somit oft selbst nicht, wo es sich gerne einordnen würde oder die eigenen Stärken liegen.

Technisch gibt es, wie bereits erwähnt, überhaupt nichts zu meckern. Das Next Gen-Upgrade hat sich hier definitiv gelohnt und verpasst Chernobylite mit geschmeidigen 4K und stabilen 60fps den Anstrich, den es auch verdient. Eine enorme Detailverliebtheit und stimmungsvolle Lichteffekte machen den Ausflug in die Sperrzone, zumindest aus optischer Sicht, zu einem unvergesslichen Ausnahme-Erlebnis, das auch einen passenden Soundtrack spendiert bekommen hat. Nur bei der englischen Vertonung der Dialoge wird es etwas merkwürdig. Die Sprecher klingen nicht sonderlich motiviert und scheinen dazu angehalten worden zu sein, ihr bestes russisch-englisch ins Mikro zu blubbern. Klingt ziemlich komisch, weshalb ihr unbedingt zum russischen O-Ton mit deutschen Texten greifen solltet.

Die Steuerung funktioniert wie erwartet gut, kann in hektischen Momentan aber auch mal etwas störrisch sein. Vor allem die Struktur der Schnellauswahl und die Navigation beim Ausbau der Basis ist uns negativ im Gedächtnis geblieben, hier benötigt ihr sicher ein wenig Eingewöhnungszeit. Im Zweifelsfall dürft ihr euch aber immer noch auf die eher schlechte K.I. eurer Gegner verlassen. Das ist zwar etwas ärgerlich, kann euch in bedrohlichen Momenten aber durchaus mal den Kopf retten.

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Chernobylite ist in seiner Next Gen-Version seit dem 21. April 2022 für Xbox Series X/S und die Playstation 5 erhältlich, eine Enhancend-Version für den PC ist ebenfalls verfügbar. Für 29,99€ schlägt der Titel überaus fair zu Buche, Käufer*innen der vorherigen Version erhalten das Upgrade kostenlos.

Der Test basiert auf einem Reviewcode von Chernobylite für die Xbox Series X, der uns freundlicherweise von unseren Medienpartnern von Plan of Attack zur Verfügung gestellt wurde. Screenshots stammen aus dem offiziellen Presse-Kit.

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1 Kommentar/Kommentare:

20bet 4. September 2023 - 8:28

Your article gave me a lot of inspiration, I hope you can explain your point of view in more detail, because I have some doubts, thank you.

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