Was? An Geister glaubt ihr nicht? Na dann passt mal auf. Wir hatten dank Square Enix nämlich die Möglichkeit, in PARANORMASIGHT: The Seven Mysteries of Honjo Jagd auf urbane Legenden zu machen. Wieso uns der Titel das Fürchten, vor allem aber unheimlich geniales Gamedesign gelehrt hat, lest ihr in unserem Test zur wohl größten Mystery-Adventure-Überraschung des Jahres auf der Nintendo Switch.
Der Bezirk Sumida im nordöstlichen Teil der japanischen Hauptstadt Tokio gilt heutzutage als völlig gewöhnlicher Stadtteil, der durch seine von Hochhäusern gepflasterten Straßenzüge kaum noch vom restlichen Stadtbild zu unterscheiden ist. Wirft man aber einen interessierten Blick in die Vergangenheit, hieß der Distrikt vor 1989 noch Honjo, schwächelte mit einer Provinz-ähnlichen Infrastruktur und galt vor allem als Geburtsstätte unheimlicher Mythen. Vor den zahlreichen Geschichten über ertrunkene Fischer, Femizide, fehlleitende Irrlichter und, tatsächlich, stinkende Füße fürchteten sich die Menschen so sehr, dass die sogenannten Honjo Nanafushigi, also die Seven Wonders of Honjo, bis heute überliefert wurden und ihr zweifelhafter Ruhm der fernöstlichen Literatur, dem Film und Theater als Inspirationsquelle diente. Sogar geführte Ausflüge für Touristen lassen sich organisieren, um den buchstäblichen Geistern der Vergangenheit ein Stückchen näher zu kommen.
Curse me if you can
Ob an diesen Erzählungen wirklich etwas dran ist, überlassen wir gerne eurer eigenen Vorstellungskraft. PARANORMASIGHT: The Seven Mysteries of Honjo nimmt seine Prämisse jedenfalls todernst und verpackt die sieben urbanen Legenden in ein mitreißend erzähltes Narrativ aus übernatürlichen Kräften und menschlichen Abgründen.
Den Startschuss, der aus unterschiedlichen Perspektiven erlebten und von äußerst diversen Motivationen geprägten Geschichte, macht Shogo Okiie. Der 25-jährige Mitarbeiter einer Seifenfirma führt eigentlich ein ziemlich unaufgeregtes Leben und kann den lebhaften Anekdoten über Gespenster nur wenig abgewinnen. Das ändert sich allerdings schlagartig, als er Yoko Fukunaga während einer Mittagspause im Park kennenlernt. Die ist nämlich total versessen auf Schauergeschichten und zieht mit ihrer Begeisterung über merkwürdige Erscheinungen und seltsame Geräusche auch Shogo in den Bann, auch wenn der ihrer Begeisterung noch mit einer gesunden Portion Skepsis begegnet. Eine Erkundungstour im nächtlichen Honjo soll aber Klarheit schaffen – und die räumt tatsächlich sämtliche Zweifel aus dem Weg. Eben noch jeden Stein gemeinsam umgedreht, starrt Yoko uns plötzlich absolut fassungslos an und stirbt kurz darauf einen grausamen Tod, den wir uns mit logischem Verstand niemals erklären könnten.
Schnell wird jedoch klar: Wir sind bereits im Besitz eines unheilvollen Objekts und haben den Fluch, der ihm innewohnt, völlig unbewusst ausgelöst. Für Trauer oder Schuldgefühle bleibt jedoch keine Zeit, laut Legende erfüllt uns eben dieses Artefakt außerdem auch einen Wunsch – zum Beispiel die Wiederbelebung eines verstorbenen Freundes. Völlig logisch, was nun zu tun ist, allerdings müssen wir die ursprüngliche Kraft des Gegenstands erstmal wieder herstellen und seinen Hunger nach Seelen befriedigen, indem wir weitere Träger des Fluchs ausfindig machen und sie ebenfalls verdammen. Weil die natürlich das Gleiche mit uns vorhaben und ihre Träume und Hoffnungen vermeintlich genauso über das Leben anderer Menschen stellen, beginnt nun ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel quer durch einen Geschichtsträchtigen Stadtteil Tokios und seine zahlreichen Hot-Spots, die neben markerschütternder Folklore eben auch mit einem Abgrund aus menschlicher Habgier aufwarten, in dessen tiefschwarzer Dunkelheit wir uns nie sicher sein können, wem es zu vertrauen gilt. Doch ist das wirklich die einzige Möglichkeit oder erwarten uns noch weitere Alternativen, dem tödlichen Fluch zu entkommen und dabei langersehnten Seelenfrieden zu finden? Vielleicht finden wir sogar Verbündete. Schließlich bringt auch PARANORMASIGHT: The Seven Mysteries of Honjo – wie es sich für eine gute Visual Novel-Erfahrung einfach gehört – einen übersichtlichen Flowchart mit, der die unterschiedlichen Schicksale sämtlicher Beteiligten clever miteinander verzahnt und ihre Wege immer wieder kreuzen lässt, während wir zwischen den Kapiteln hin und her reisen. Und was hat es überhaupt mit dem mysteriösen Erzähler auf sich, der uns hier so hartnäckig in die Ereignisse miteinbeziehen will?
4D-Yo-kai Watch
Spielerisch stellt uns PARANORMASIGHT: The Seven Mysteries of Honjo vor außergewöhnlich kreative Herausforderungen. Gerne möchten wir uns an dieser Stelle ein wenig zurückhalten, schließlich haben ein paar der Lösungswege unseren Verstand regelrecht zum Explodieren und die Mauer zur vierten Dimension eindrucksvoll zum Einsturz gebracht. Aber als wir minutenlang in einem Dialog festhingen und immer wieder von unserem Gegenüber verflucht wurden, konnten wir die Situation erst mit einem genauen Blick ins Optionsmenü klären, was uns Gefühle bescherte, an die wir nach über dreißig Jahren vor dem Bildschirm gar nicht mehr geglaubt hätten.
Grundsätzlich teilt sich das Spielprinzip in Visual Novel-artige Dialoge und einer klassischen Erkundung der Umgebung, wie wir es zum Beispiel aus der Ace Attorney-Reihe kennen, äußerst gelungen und abwechslungsreich auf. Ein Cursor lässt uns mit interessanten Punkten in der Gegend und den darin verweilenden ProtagonistInnen interagieren, wobei uns der Titel stets mit stimmungsvoll geschriebenen Texten und atmosphärischen Kamerafahrten belohnt. Neben gewöhnlichen Perspektiven, bietet PARANORMASIGHT aber auch regelmäßig Gebiete, die wir in 360°-Ansicht auf den Kopf stellen dürfen. Das kennen Genre-Fans vielleicht schon aus dem letzten Jake Hunter-Ableger, verspricht in jedem Fall aber spielerische Tiefe und jede Menge Horror-Ästhetik. Wenn wir uns nach sorgfältiger Erkundung wieder umdrehen, unsere Begleitung aber plötzlich verschwunden ist, kann selbst die voll aufgedrehte Heizung dem Schauer, der uns da so nasskalt den Rücken herunterläuft, nicht viel entgegenwirken. Auf ein beherztes „Schau doch mal hinter dich“ wenige Minuten danach, reagieren wir bereits mit blinzelnden Blicken, um den vermeintlich wartenden Schock ein klein wenig abzumildern. Als wir kurze Zeit später heimlich zwei Polizisten belauschen und dafür hinter einem Baumstamm verschwinden, den Blick für ein besseres Verständnis des Gesprächs aber immer wieder selbstständig in Richtung der Ordnungshüter schweifen lassen, können wir den lauten Aufschrei jedoch nicht länger unterdrücken. Einer der beiden hat uns längst bemerkt und schiebt nun völlig überraschend sein Gesicht in Totalaufnahme auf die andere Seite des Baums, hinter der wir eigentlich weiterhin Schutz suchen wollten – Schreck lass nach!
Außerdem schickt uns PARANORMASIGHT: The Seven Mysteries of Honjo auffällig oft in die umfangreiche Datenbank, in der wir detaillierte Notizen zu Charakteren, Orten und ihren Mythen durchstöbern und so wichtige Infos erhalten – schließlich sollten wir die eingangs erwähnte Prämisse durchaus ernst nehmen. Ob ein Charakter eine potentielle Tankstelle für die dringend benötigte Seelenkraft unseres Artefakts ist, damit aber gleichzeitig auch eine Gefahr für uns darstellt, lässt sich im erzählerisch cleveren Mix aus Neugier und gesunder Vorsicht zunächst gar nicht sagen. Bedächtig wählen wir aus mehreren Antwortmöglichkeiten aus und überlegen auch vor dem Bildschirm, ob es sich bei dem Michael Jackson-Verschnitt mit betont japanischer Vorliebe für deutsche Namen Richter Kai tatsächlich bloß um einen Privatdetektiv mit empathischer Ader handelt oder er doch versucht, uns auf grausame Art zu verfluchen.
…kaschiert der Titel mit vielen Filtern, starken Kontrasten und eigener Farbgebung und stilisiert den Look so zur zentralen Ästhetik seiner beklemmenden Atmosphäre…
Andere Charaktere sind hingegen deutlich offensiver unterwegs. Als wir die kühl und unnahbar wirkende Harue im hiesigen Park antreffen, verwickelt die uns sofort in ein intensives Gespräch und gibt mit abgeklärter Coolness zu erkennen, dass mit ihr nicht zu spaßen ist. Die Frage über Träger des Fluchs längst geklärt, versuchen wir im Angesicht ihres brutalen Countdowns herauszufinden, was ihre Hexerei auslöst, denn auch das ist zentraler Bestandteil des Narrativs, vor allem aber des Gameplays. Flüche haben in der Welt von PARANORMASIGHT: The Seven Mysteries of Honjo bestimmte Trigger. Das Wissen darüber bedeutet selbstverständlich große Macht, weil wir unseren eigenen Fluch so jederzeit auslösen, beziehungsweise die Angriffe anderer Persönlichkeiten gekonnt abwehren können. Mit einem brutalen Countdown im Nacken, der uns verzweifelt Gesprächsthemen auswählen lässt, die an der kühlen Harue aber bloß abprallen, finden wir schnell den Tod.
Doch das ist längst nicht das Ende, ganz im Gegenteil. Auf einer erzählerischen Meta-Ebene schweift PARANORMASIGHT immer wieder von seinen Charakteren und ihren Erlebnissen ab und rückt uns als Spieler direkt in den Mittelpunkt der Ereignisse. Dabei werden wir stets von einem unheimlichen Erzähler beobachtet, der neben einer Leidenschaft für gruselige Geschichten und seinen undurchsichtigen Motiven, aber auch hilfreiche Tipps parat hält. Wie wir erfahren, war unser Tod in dieser Situation nämlich unabdingbar, um auf diese Weise zu lernen, wie wir dem Fluch der Dame im Park entgehen. Das bedeutet wirklich wir, nicht etwa Shogo als Protagonist, den wir eigentlich spielen. Der weiß ja gar nichts von uns, dem an die Dark Pictures-Reihe erinnernden Kurator und schon gar nichts über unsere neuen Erkenntnisse, dass wir das Feuerzeug in Shogos Hosentasche besser wegwerfen sollten, um nicht als seelenlose Mumie inmitten eines idyllischen Stadtparks zu enden. Also gehen wir die Szene nochmal an, wählen im Inventar das Feuerzeug aus und werfen es beherzt in den naheliegenden See. Shogo wundert sich zwar, kann die Freude über sein somit verschontes Leben allerdings genauso wenig verbergen. An dieser Stelle fragen wir uns übrigens zum ersten Mal, ob es eigentlich einen Unterschied macht, den Fluch manuell auszulösen oder dem Spiel dabei zuzusehen, wie es Flüche in den entsprechenden Situationen automatisch ausspricht – hm.
Junji It?-esque
Obwohl es PARANORMASIGHT: The Seven Mysteries of Honjo an einer Sprachausgabe fehlt, leistet das Writing seiner Charaktere einen derart guten Job, dass es gar keine Stimmen braucht, um uns ein exaktes Bild ihrer angestrebten Persönlichkeit zu vermitteln. Wie mit einem guten Buch in der Hand, erkennen wir die Eigenschaften und Verhaltensweisen sämtlicher ProtagonistInnen durch ihre bloße Darstellung und die ebenfalls fantastisch geschriebenen Dialoge, in denen die lebhafte Mimik aus schmollenden Lippen und vom Schrecken verzerrten Fratzen mindestens genauso begeistert, wie der bodenständig-erwachsene Ansatz, uns vor allzu exotischen Individuen zu verschonen und stattdessen mit optisch sowie intellektuell nachvollziehbaren Persönlichkeiten in den Kampf der Flüche zu ziehen.
Mit einem Artdesign, das sich irgendwo zwischen der grotesken Genialität eines Junji It? und dem verstörend-paranoiden Blick auf die verzerrte Aufnahme einer Überwachungskameras trifft, transportiert PARANORMASIGHT: The Seven Mysteries of Honjo den Horror auch visuell auf höchstem Niveau. Die sonst wahrscheinlich eher lieblos wirkenden Fotografien der realen Umgebungen, kaschiert der Titel mit vielen Filtern, starken Kontrasten und eigener Farbgebung und stilisiert den Look so zur zentralen Ästhetik seiner beklemmenden Atmosphäre, hinter deren düsteren Ecken wir jederzeit die versteckten Blicke leuchtender Augen fürchten.
Was unsere eigenen Augen dagegen zum Strahlen bringt, ist die unglaublich spektakuläre, vor allem aber dynamische Inszenierung der Geschehnisse. Der obligatorisch starren Darbietung im Genre zum Trotz, macht PARANORMASIGHT seinem virtuellen Kameramenschen ordentlich Feuer unterm Hintern. Wir erleben Gespräche aus der Schulteransicht der ProtagonistInnen, während sich die Perspektive nur langsam von links nach rechts verschiebt und dabei mit einer unfassbar immersiven Tiefenschärfe spielt. Totalaufnahmen von Gesichtern füllen plötzlich den gesamten Bildschirm, nachdem die Ansicht bedrohlich träge in die Richtung eines leisen Seufzers gewandert ist und damit ihren schrecklichen Ursprung verrät. Der Soundtrack tut sein Übriges und verwöhnt unsere Ohren mit geisterhaften Geräuschen und einem Score, der durch klimpernde Klavierklänge, aber genauso spirituell und mysteriös angehauchte Musikstücke für akustisches Gänsehaut-Feeling sorgt. Wer jetzt noch die HD-Rumble-Funktion der Nintendo Switch aktiviert, erschrickt in besonders intensiven Momenten garantiert.
Auch technisch zeigt sich der Titel in der von uns getesteten Nintendo Switch-Version von seiner besten Seite und bekommt natürlich eine ganz besondere Empfehlung für stimmungsvolle Sessions im Handheldmodus. Zu bemängeln gibt es hier wenig, nur die Bedienung des Cursors fällt zeitweise etwas lahm aus und lässt eine frei konfigurierbare Intensität vermissen. Immerhin dürfen wir stattdessen den Touchscreen nutzen, während PARANORMASIGHT uns jederzeit mit einem komfortablen Rumble-Feedback auf interaktive Ob- und Subjekte in der Umgebung aufmerksam macht. Bildschirmtexte und Dialoge erscheinen übrigens ausschließlich auf Englisch – entsprechendes Know-how sollten wir also unbedingt mitbringen, um in den durchschnittlich 15 Stunden Spielzeit kein wichtiges Wort zu verpassen.
FAZIT:
PARANORMASIGHT platzt wie ein Jumpscare völlig überraschend in unsere Spielebibliothek und entpuppt sich fernab jeglicher Werbetrommeln als absolut essentieller Titel im Genre, über den Fans auch zehn Jahre später noch sprechen werden. Mit unglaublich innovativen Gameplaymechaniken, die auf clevere Weise sogar die vierte Dimension erreichen, einer mitreißend sowie abwechslungsreich erzählten und durch seine Junji It?-esque Ästhetik vor allem ausgezeichnet visualisierte Horror-Story, zählt PARANORMASIGHT bereits jetzt zu den ganz großen Namen im Mystery-Adventure- und Visual Novel-Genre. Wir können es jedenfalls kaum abwarten, was das vierköpfige (!) Team aus Square Enix-Mitarbeitern als nächstes auf die Beine stellt. Die schweben dann hoffentlich wieder ohne Rumpf durch die Luft und lehren uns erneut das Fürchten.
WERTUNG: 96/100
PARANORMASIGHT: The Seven Mysteries of Honjo ist seit dem 8. März 2023 für die Nintendo Switch, den PC via Steam und iOS und Android erhältlich. Für die ausschließlich digitale Veröffentlichung zahlt ihr grundsätzlich einen ohnehin fairen Preis von 19,99€, könnt bis zum 23. März aber noch ordentlich sparen und den Titel für 15,99€ auf allen erhältlichen Plattformen erwerben.
Für diesen Test von PARANORMASIGHT: The Seven Mysteries of Honjo auf der Nintendo Switch wurde uns freundlicherweise ein Reviewcode vom Publisher Square Enix zur Verfügung gestellt. Screenshots stammen aus dem offiziellen Pressekit.