Chaos;Head Noah / Chaos;Child bei uns im Test

von Dennis
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Das lange Warten hat ein Ende. Mit Chaos;Head Noah und Chaos;Child sind zwei der wichtigsten Science-Adventure-Ableger aus dem Hause Mages endlich auch für die Nintendo Switch erhältlich. Kann das Visual Novel-Doppelpack heute noch überzeugen? Und wem gehören eigentlich diese Augen? Unser Test gibt Antworten!


Ein ganz normales Leben führen, danach streben wir wohl alle. Manche erwarten vielleicht etwas mehr, andere sogar weniger. Denn anstatt einen aufregenden Alltag mit großem Freundeskreis zu genießen, finden viele ihr Seelenglück in absoluter Isolation. Soziale Interaktion tauschen sie freudestrahlend gegen Einsamkeit, leidenschaftlich ausgeführte Hobbys und ein ganz eigenes Verständnis für die Welt um sie herum. So auch Protagonist Takumi Nishijou, der im belebten Tokioter Stadtteil Shibuya kein besseres Beispiel für einen sogenannten Hikikomori abgegeben könnte. Abgeschottet vom Rest der Gesellschaft, verbringt der blasse Blauschopf seine Zeit am liebsten mit Videospielen und Hentai. Ja, sogar seine Anwesenheit in der Schule ist so strukturiert, dass es gerade noch für den Abschluss reicht, weshalb Nishijou viele Tage einfach in seinem als Wohnung umfunktionierten Container auf dem Dach eines Wolkenkratzers verbringt und dort den stillen Ruhm seiner unangefochtenen Karriere als bester Spieler eines beliebten Online-RPGs genießt.

Doch als plötzlich eine Reihe höchst seltsamer Morde die Metropole erschüttern, soll sich auch Nishijous Leben drastisch ändern. Denn was der ansonsten wenig begeisterungsfähige Schüler zunächst noch gebannt vor dem heimischen Bildschirm verfolgt, wird schon bald zu einem Teil seiner eigenen Realität, wobei selbst die nicht immer das zu sein scheint, für das er sie bislang gehalten hat…

Chaos 6 Chaos;Head Noah / Chaos;Child bei uns im Test

Alles hat ein Ende, nur…

Erneut gelingt dem japanischen Entwicklerstudio Mages mit Chaos;Head Noah und Chaos;Child ein erzählerischer Meilenstein. Der starke Cast aus vielseitigen und vor allem interessanten Persönlichkeiten legt schnell die bunte Maske überdimensionaler Anime-Augen ab und zeigt mit dem Feingefühl, aber eben genau der gewollten Durchschlagskraft einer Abrissbirne sein wahres, von nachvollziehbaren Problemen gezeichnetes Gesicht. Neben zahlreichen Einflüssen aus dem echten Leben und leicht überzogener Popkultur, zieht uns der gewohnt gelungene Spagat zwischen abgedrehter Fiktion und komplex wissenschaftlicher Erklärung durchweg in den Bann. Offene Münder garantiert, denn während Nishijou anfangs noch mit relativ alltäglichen Sorgen kämpft und erst das Auftauchen merkwürdiger Mädchen mit riesigen Schwertern für tatsächliche Stirnfalten sorgt, steht schon bald das Schicksal der gesamten Welt auf dem Spiel, wofür sich beide Titel beispiellos an authentischen Inspirationsquellen wie Religion, Digitalisierung, Psychosomatik und der eigenen Identität bedienen und daraus eine ganz eigene Formel spinnen, die genügend Interpretationsfreiraum lässt, um auch uns zwischen Realität und Wahn zweifeln zu lassen.

Während nach knapp 40 Stunden bei entspannter Lesegeschwindigkeit zum ersten mal der Abspann über den Bildschirm flimmert, kommt allerdings schon ein wenig Wehmut auf und wir stellen uns verwundert die Frage, ob das wirklich schon alles war. Nicht etwa, weil wir nicht auf bestem Niveau unterhalten wurden oder Charakterzeichnung und die spannende Entwicklung des bunten Casts nicht einem Titel dieser Größe entsprechen. Nein, viel mehr sind es die zahlreichen Fragezeichen, die immer noch in unseren Köpfen spuken. Und, wer hätte es gedacht, mit dem ersten Ende von Chaos;Head Noah ist noch lange nicht Schluss, denn insgesamt erwarten uns zehn unterschiedliche Ausgangsszenarien – sieben mehr, als noch im Original. Der Nachfolger Chaos;Child möchte sogar ganze fünf mal erfolgreich beendet werden, damit wir Zugriff auf das wahre Ende erhalten.

Das mag nur wenig verwundern, schließlich sind wir das verworrene Netz aus tiefgründigen Charakterbeziehungen und undurchsichtigen Entscheidungsverläufen vom Entwickler Mages bereits aus Steins;Gate Elite und Robotics;Notes Elite gewohnt, wobei sie damit ja nicht einmal ein besonderes Novum im Genre darstellen. Trotzdem, die fehlende Nachvollziehbarkeit ist extrem verwirrend. Bei unserem ersten Durchlauf bemerken wir nicht einmal, dass Möglichkeiten der Interaktion überhaupt existieren. Doch selbst mit diesem Wissen, benötigen wir im zweiten Run dringend Hilfe aus der Community, um die Geschichte auf dem gewünschten Pfad wandeln zu lassen.

Auch hier möchten wir euch ungern spoilern, doch sämtliche Gameplay-Mechaniken, so abstrus sie auch erscheinen mögen, bleiben spielerisch im eher unaufgeregten Rahmen eines typischen Adventures. Erwartet also keine dynamischen Eisbrecher, das Chaos-Doppelpack bleibt eine vorwiegend statische Erfahrung, wie wir sie von einer Visual Novel auch ganz klassisch erwarten.

Chaos 4 Chaos;Head Noah / Chaos;Child bei uns im Test

Vom Gruseln und Triggern

Fernab ihrer unflexiblen Präsentation, verstehen es beide Titel dennoch auf wunderbare Weise, der umfangreichen Erzählung Leben einzuhauchen. Trotz Kulleraugen und stereotyper Anime-Tropes, die unweit des Brustbeins aufgeregt-aufdringlich den halben Bildschirm füllen – es bleibt eben sehr japanisch – erwartet uns ein vorwiegend düsterer Mix aus ernsten Themen und komplexer (Meta)-Wissenschaft im teils sogar actionreichen Horrorgewand, der nur selten in humoristischen Einlagen Auflockerung findet und Momente der Leichtigkeit eher dafür nutzt, um der Dramaturgie der steilen Achterbahnfahrt noch mehr Geschwindigkeit zu verleihen, als daraus eine gemütliche Sonntagsfahrt zu machen.

Vor allem zu Beginn der Geschichte von Chaos;Head Noah, wenn Nishijou alleine in seinem abgedunkelten Wohn-Container sitzt, sich durch unzählige Artikel über die mysteriöse Mordserie klickt, wir natürlich gespannt mitlesen, und dabei nur das permanente Festplatten- und Lüftergeräusch seines Computers im Hintergrund rauschen und monoton klacken hören, kommt schon ordentlich Grusel-Feeling auf, was optisch clever imitierte, paranoide Schulterblicke nach der berühmten Person hinter uns wahnsinnig gelungen unterstreichen. Das aber nur als kleines Beispiel, denn im Prinzip holen beide Spiele erstaunlich viel aus ihrem Präsentations-Potential heraus, damit die Immersion auch audiovisuelle Gerechtigkeit erfährt.

Falls das doch einmal nicht klappt oder Szenen bewusst ohne Visualisierung auskommen, springt die Erzählung in Textform ein und begeistert uns mit detailreichen Erklärungen und ihrem großartigen Writing, das diese hohe Qualität selbstverständlich auch in den etlichen Dialogen erreicht. Allerdings möchten wir an genau dieser Stelle eine kleine Triggerwarnung aussprechen. Die eher gemächliche, durch das dynamische Springen zwischen verschiedenen Charakteren aber immerhin sehr lebhafte Erzählstruktur und einem fast schon zu ereignislosen Mittelteil, in dem die Geschehnisse etwas vor sich hin plätschern, nehmen Chaos;Head Noah und auch Chaos;Child vor allem im letzten Drittel extrem an Fahrt auf und überrollen ihr zuvor aufgebautes Kartenhaus mit einem ganzen Konvoi aus tonnenschweren LKWs, um es kurz darauf bis zur Unkenntlichkeit zu verbrennen. Klingt wild, aber ja, waren es wenige Stunden zuvor noch die bizarren Mordfälle, beispielsweise ein in den Bauch eines toten Mannes genähter Fötus, oder die seltsamen Ungereimtheiten um Nishijous plötzlichen Freundeskreis und eine scheinbare Amnesie, finden wir uns nun in einem emotionalen Scherbenhaufen wieder, der die Grenzen zwischen Realität und Wahnvorstellung verschwimmen lässt.

Konkret, und natürlich ohne Spoiler, geht es um ernste und reale Themen wie Selbstmord. Der wird zwar nicht explizit dargestellt, findet im detailreichen Narrativ und der situativen Dynamik, die neben der fesselnden Dramatik irgendwann einen emotional nur schwer zu ertragenden Tiefpunkt erreicht, allerdings genügend Entfaltung und eine gewisse Nähe zum echten Leben. Klar, für eine Visual Novel ist das schon eine Auszeichnung, wenn sie es versteht, uns derart mitzureißen. Wir mussten im konkreten Fall allerdings eine kleine Pause einlegen, weil es uns mit diesem Stimmungsbild über einen längeren Zeitraum dann doch nicht mehr so gut ging. Achtet da unbedingt auf euch und spielt/lest vielleicht gemeinsam. Kleiner Alternativ-Tipp für zwischendurch von uns: Arcade Spirits: The New Challengers – so inklusiv und positiv haben wir uns schon lange nicht mehr unterhalten gefühlt.

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Mobiler Wahnsinn

In Sachen Technik wirkt das Doppelpack aus Chaos;Head Noah und Chaos;Child jedenfalls gut auf der Nintendo Switch aufgehoben. Bis auf wenige Rechtschreibfehler, sind uns keine weiteren Ausrutscher oder Unzulänglichkeiten aufgefallen. Im Gegenteil, durch den mobilen Aspekt gewinnen beide Titel nochmal gehörig an Spielbarkeit hinzu. Sämtliche Texte erscheinen jederzeit gut lesbar auf dem Bildschirm, wobei viele Einstellungsmöglichkeiten zusätzlich dafür sorgen, dass ihr ein individuell angenehmes Erlebnis habt. Über die Steuerung gibt es Genre-bedingt wenig zu sagen, die funktioniert einwandfrei, lediglich der fehlende Touchscreen-Support ist etwas bedauerlich. Aber alles halb so wild, schließlich nutzen wir das Display auch viel lieber, um die handgezeichneten Charakter-Sprites, liebevoll detaillierten Umgebungen und die ein oder andere Animation zu bewundern. Nach den beiden Elite-Ablegern der Science Adventure-Reihe, mit vollständig animierten Sequenzen in Steins;Gate Elite, bzw. mehrdimensionalen Polygon-Modellen in Robotics;Notes Elite, macht sich beim Anblick dieses Doppelpacks zwar leichte Ernüchterung breit, einem gewissen Charme und dem Aufbau der Atmosphäre tut das aber keinen Abbruch (es muss ja auch nicht zwangsläufig jedes Spiel DIESE verrückte Präsentation auffahren).

Auf die Ohren gibt es einen abwechslungsreichen, stimmungsvollen Soundtrack-Cocktail aus verspielten Klängen, düsteren Tönen und aufreibenden Stücken. Ob elektronisch oder rockig, die klangvolle Palette hält für jede Situation das passende Musikstück parat und trägt damit einen Großteil zur ohnehin starken Immersion bei. Für die Portierung auf Nintendos Hybridkonsole wurden sogar zusätzliche Songs aufgenommen, die sich wunderbar in den bereits bekannten Score einfügen. Doch damit nicht genug, auch die Sprachausgabe verdient mit ihrer durchgängigen und gelungenen Synchronisation auf Japanisch ein ganz besonderes Lob. Für die Texte müssen wir hingegen mit Englisch vorliebnehmen, was aufgrund der wissenschaftlichen Anleihen und generell komplexen Thematik mindestens fortgeschrittene Kenntnisse in dieser Sprache erfordert.

Wer damit kein Problem hat, stößt sich höchstens noch an den nicht eingeblendeten Charakternamen während der Dialoge, zumindest in Chaos;Head Noah. Der Nachfolger Chaos;Child geht damit deutlich besser um, im Prequel ist allerdings meist nicht gleich ersichtlich, welcher Charakter gerade spricht. Vor allem in Gesprächssituationen mit mehreren ProtagonistInnen und leise gestelltem Spielsound, rätseln wir oft, wer aktuell das Wort hat und achten dabei etwas zu angestrengt auf die immerhin nett gestaltete Lippensynchro.

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Chaos;Head Noah und Chaos;Child sind seit dem 7. Oktober 2022 endlich auch für die Nintendo Switch erhältlich. Zudem findet ihr beide Titel auf dem PC via Steam und der Playstation 4. Das Doppelpack schlägt mit 49,99€ zu Buche und ist sogar in einer physischen Variante erhältlich. Digital habt ihr die Möglichkeit, beide Ableger auch einzeln zu erwerben.

Für diesen Test wurde uns freundlicherweise ein Reviewcode von Chaos;Head Noah und Chaos;Child für die Nintendo Switch vom Publisher Spike Chunsoft zur Verfügung gestellt. Screenshots stammen aus dem offiziellen Presse-Kit.


Ein kurzer Hinweis zum Schluss:

Chaos;Head Noah ist das Remaster der bereits 2008 und ausschließlich innerhalb Japans veröffentlichten Visual Novel Chaos;Head. Während westliche SpielerInnen zum ersten mal überhaupt in den Genuss der Vorgeschichte zu Chaos;Child kommen dürfen, hat das Remaster vor allem technische Verbesserungen an Bord. So lässt sich das Prequel nun auch in HD erleben, zudem wurden neue Enden und Musikstücke hinzugefügt. Bei Chaos;Child handelt es sich lediglich um einen Port des erstmals 2014 für Playstation und PC erschienenen Science-Adventures.

Chronologisch solltet ihr unbedingt mit Chaos;Head Noah beginnen, auf das wir auch hier im Test vorwiegend eingegangen sind, um hauptsächlich relevante Spoiler zu vermeiden. Aber keine Panik, das hohe Niveau bleibt beiden Ablegern durchweg erhalten, weshalb wir das Doppelpack auch in einer einzigen Review verpackt haben.

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1 Kommentar/Kommentare:

Konosuba - Love For These Clothes Of Desire im Test 19. Februar 2024 - 18:10

[…] für Visual Novels, zu denen auch Chaos;Head Noah und Chaos;Child zählen, geht es nun ans Lesen. Das Besondere an Love For These Clothes Of Desire ist, dass […]

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