Cardpocalypse bei uns im Test

Manchmal sitze ich einfach nur da und stelle mir die wichtigen Fragen des Lebens. Zum Beispiel…was die Kids heutzutage wohl so auf dem Schulhof treiben!? Spielen sich dort mittlerweile High School Musical-ähnliche Szenen ab, in denen synchron der Floss-Tanz zelebriert wird oder wird schlicht nur noch aufs Smartphone geschielt, um auch diese paar Minuten Freizeit mit einer Runde Battle Royale zu füllen?

Keine Ahnung, und als waschechtes Kind der 90er würde mich eine ehrliche Antwort auf diese Frage ohnehin zutiefst verunsichern. Wahrscheinlich, denn zu meiner Zeit überschwemmte ein völlig anderer Trend den Pausenhof: Sammelkarten! Ob Pokémon, Magic: The Gathering oder Yu-Gi-Oh!, unser Spielzeug war plötzlich aus Pappe und passte in jeden Rucksack. Da wurde eifrig getauscht, gespielt oder einfach nur mit seltenen Exemplaren geprahlt. Und was bei Eltern sowie Lehrern oft nur zu energischem Kopfschütteln führte, brachte uns mindestens spaßige Momente, oft aber auch neue Freundschaften oder das Entwickeln sozialer Kompetenzen. Hach, war das eine schöne Zeit.

Cardpocalypse fängt dieses nostalgische Gefühl perfekt ein. Gerade erst in eine andere Stadt gezogen, begleiten wir im aktuellen Titel des Indie-Entwicklers Gambrinous das zehnjährige Mädchen Jess bei ihren ersten Schritten an der Dudsdale Grundschule. Wobei Schritte vielleicht nicht der beste Begriff ist, immerhin sitzt Jess im Rollstuhl. Vorurteile scheinen an ihrer neuen Schule jedoch keine Rolle zu spielen, denn dort dominiert aktuell ein ganz anderer Begriff: Mega Mutant Power Pets. Das fiktive Sammelkartenspiel, basierend auf einer ebenso beliebten TV-Serie, konnte die Herzen der Schüler im Sturm erobern und ist nun bereits im Schulbus das Thema Nummer eins.

Erfrischend und herzerwärmend zugleich, erfahren wir mit Jess übrigens eine starke, weibliche Hauptfigur, die sich trotz oder gerade wegen ihrer Behinderung nicht unterkriegen lässt. Was im Spiel durch ältere Kids, Lehrer mit Abneigung gegen jeglichen Spaß, allgemeine Sorgen, im späteren Verlauf aber vor allem als weltumfassende Bedrohung durch die zum Leben erweckten Mega Mutant Power Pets Darstellung findet, birgt eine weitaus komplexere Botschaft, als es der unaufgeregte, jedoch sehr stimmungsvolle Cartoon-Look vermuten lässt. Wer hinter die Kulissen blickt, erkennt die positiven Botschaften, die Jess hier zahlreich versprüht und jüngeren Spielern durchaus eine Hilfe für mehr Selbstvertrauen sein können. Ältere Menschen vor dem Bildschirm nicht ausgenommen, denn die blicken oft erstaunt zurück und erinnern sich, wie unvoreingenommen Kinder miteinander umgehen und Ethik meist nur eine Frage der gemeinsamen Interessen ist.

Das Herzstück von Cardpocalypse bildet selbstverständlich das Gameplay, das sich zwar zahlreich bei anderen Vertretern des Sammelkartenspiel-Genres bedient, dabei aber derart gut funktioniert, um völlig berechtigt als eigenständige Erfahrung durchzugehen. Denn überraschenderweise spielt sich Mega Mutant Power Pets fast so, als würden wir eine Partie mit Blizzard’s nicht minder spaßigem Erfolgshit Hearthstone verbringen.

So platziert auch hier jeder Spieler einen Champion auf dem Spielfeld, dessen Lebenspunkte es auf Null zu bringen gilt. Dabei unterstützen weitere Monster, die ebenfalls über einen Angriffs- und Verteidigungswert, aber auch zahlreiche Effekte verfügen. Verteidiger beispielsweise müssen wir zuerst angreifen, während die Aufgeladen-Eigenschaft dafür sorgt, dass bestimmte Karten im selben Zug ihres Ausspielens eine Attacke starten dürfen. Das aber nur als grobes Beispiel, die Palette unterschiedlicher Monster und Effekte ist lang und ihre Kombinationen untereinander zahlreich, wodurch sich überraschend vielseitige, manchmal auch extrem knifflige Matches ergeben. Zudem warten alle Champions mit der namensgebenden Mutation auf, sobald ihre HP unter einen bestimmten Wert gesunken sind. In aussichtslosen Duellen ist das oft der entscheidende Wendepunkt, denn wer sich hier vielleicht schon eine schützende, allerdings schwache Armee kleinerer Monster aufgebaut hat, kann nun bei passender Spezial-Fähigkeit des Champions einen ordentlichen Boost auf Angriff und Verteidigung erwarten und so den Spieß nochmal umdrehen.

TCG-versierte Spieler finden sich in Cardpocalypse schnell zurecht, dafür ist die Grundformel schlicht zu bekannt. Doch selbst ein leichter Einstieg führt irgendwann zu wohlüberlegtem Deckmanagement, für das sich jede Menge Zeit investieren lässt. Neben vorgefertigten Themendecks, besteht ebenfalls die Möglichkeit ein Set aus 20 selbstgewählten Karten zu erstellen – Erfahrung und Verständnis über bestehende Mechaniken natürlich vorausgesetzt. Mit hunderten einzigartigen Karten fällt diese Wahl ganz schön schwer, zumal jedes Mutant Power Pet einer von vier Fraktionen zugeteilt ist. Sinnlos die stärksten Karten in ein Deck zu mischen ist also nicht unbedingt der beste Weg zum Erfolg, denn gerade durch das Fraktions-Feature erhält die Abstimmung sämtlicher Karten untereinander eine weitere taktische Komponente, die es angesichts hilfreicher Buffs und Typen-Vorteile nicht zu unterschätzen gilt.

Doch keine Panik, zu Beginn lässt es Cardpocalypse relativ ruhig und langsam angehen. Die ersten Matches dienen wirklich nur zum Verständnis der Grundmechaniken, erst später wird es so richtig abgefahren. Dann kommen plötzlich Sticker ins Spiel, die frei auf jeder Karte angebracht werden dürfen und somit bestehende Fähigkeiten austauschen, die Lebenspunkte erhöhen oder gar den Namen der Sammelkarte ändern. Damit aber längst nicht genug, wer durchhält und einen der letzten von insgesamt fünf Ingame-Tagen mit Jess erreicht, steht einer kompletten Änderung des Regelwerks gegenüber, die auf den zuvor getroffenen Entscheidungen in Dialogen basiert.

Bis zu diesem Punkt im Spiel vergehen jedoch bereits locker zehn bis fünfzehn Spielstunden, in denen wir nicht nur Kämpfe mit Sammelkarten austragen, sondern auch das Schulgebäude erkunden, unsere neuen Mitschüler kennenlernen, Gespräche führen und miteinander tauschen. Das Tauschverhältnis gibt sich recht realistisch, wer von seinem Gegenüber also eine superseltene Karte erhalten möchte, muss ein ebenso wertvolles Exemplar abdrücken oder zumindest zwei seltene Motive anbieten. Selbst hier reizt Cardpocalypse sein sympathisches Schulszenario voll aus, weshalb auch gerne mal das eigene Pausenbrot als gleichwertiger Tauschgegenstand dient.

Die Gestaltung der Karten mag auf den ersten Blick etwas abschreckend wirken, stellt sich allerdings früh als gelungene Persiflage an eben jene Inspirationsquellen heraus, an denen Cardpocalypse sich spielerisch so eifrig bedient. Von den Sammelkarten blinzeln uns keine bis ins Detail ausgearbeiteten Heroen an, die mit stahlharten Oberarmen skurril gezeichnete Klingen führen. Nein, es sind stinknormale Haustiere mit seltsamen Mutationen. Hunde, die Satellitenschüsseln als Halskrause tragen oder eine Schildkröte, längst aus ihrem Panzer gekrochen, den sie nun schützend, doch immerhin entschlossen vor sich hält. Mit viel Humor bringt das eigenartige Design oft zum Schmunzeln, zeigt aber gleichzeitig und völlig unverblümt die Parallelen zu Protagonistin Jess. Vielleicht ist sie nicht das hübscheste Kind, gewiss nicht perfekt und ihr Leben im Rollstuhl wirkt für viele sicher abschreckend, doch wer sich die Zeit nimmt und einmal genauer hinschaut, entdeckt einen herzensguten Menschen, von dem wir alle noch etwas lernen können.

Technisch begeistert die von uns getestete Nintendo Switch-Version von Cardpocalypse sowohl im Handheld-Modus, als auch auf dem TV mit flüssiger Darstellung und guter Bedienbarkeit. Neben Joy Cons und dem Pro Controller, lässt sich der Titel auch bequem per Touchscreen steuern. Als Soundtrack gibt es rockige, eigens für das Spiel erstellte Melodien aufs Ohr, was angesichts der allgemeinen Cartoon-Thematik ziemlich stimmig klingt. Lediglich die aufgezwungene deutsche Übersetzung der Bildschirmtexte fällt hier negativ ins Gewicht, da so wieder mal ein paar Sprüche ins Leere gehen und es einfach nur komisch klingt, wenn Wörter wie Kid inkonsequent beibehalten werden.


Cardpocalypse ist seit dem 12. Dezember 2019 auf allen aktuellen Systemen digital für 24,99 € erhältlich.

Unser Test basiert auf einem Review-Code für Cardpocalypse, der uns freundlicherweise von unseren Medienpartnern zur Verfügung gestellt wurde. Screenshots stammen aus dem offiziellen Presse-Kit.

 

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1 Kommentar/Kommentare:

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